Essay von Thomas Edlinger

Nichts gilt, alles geht. Werden wir langsam alle irre, wird das Unfassbare normal?

Ein Zauberstift, der sogenannte Autopen, hat statt Joe Biden selbst dessen Begnadigungen unterschrieben. Also ist laut Donald Trump daher wieder einmal alles Schall und Rauch. Da kann sich die New York Times noch so viele Finger wundschreiben über die endlose Liste der Lügen und Verdrehungen. Erlaubt ist, was erfolgreich ist - und uns Fragezeichen ins Gesicht malt. Diesen Vorgang kannte man früher nicht aus dem Oval Office, sondern aus dem Museum, in dem man irritierender Kunst begegnen kann. Jetzt ist Unverständnis nicht mehr die Antwort auf Avantgarden oder neue Sounds, sondern die selbstverständlichste Reaktion auf den KI-Trugbildern durchsetzten Nachrichtenstrom. Der Name des Flugzeugs, das die Atombomben auf Japan abgeworfen hat, soll auf Wunsch des Pentagons geändert werden. Der US-Bomber Enola Gay klingt offenbar verdächtig nach Homosexualität und einem bösen Hit der (natürlich europäischen!) Band OMD.  Ist das die Rache der rechten Cancel-Culture an der angeblichen Diktatur der Wokeness oder einfach nur, Entschuldigung, ein irrer Glauben an die Magie der Worte?

Despotische Drohung

Was in erster Linie konfus erscheint, steckt leider oft voller tyrannischer Absichten gegen mögliche Gegner, die gern als linksradikale Spinner verhöhnt werden. Hinter den Bannsprüchen gegen die toxischen Worte der Achse des Bösen zwischen NYU und Berkeley lauert eine despotische Drohung. 1 plus 1 ist das, was ich sage. Souverän ist, wer das nicht nur behaupten, sondern auch durchsetzen kann. Phantasiezölle rauf, Daumen runter. Die Flutung der Infosphäre mit tolldreister Desinformation und die Konjunktur des Whataboutism führen zu einer Aushebelung von Gewissheiten „von oben“, zu einer autoritären Bestreitung einer von allen teilbaren Wirklichkeit, die nicht zuletzt dem Faschismus den Weg bereitet. 

Bezeichnenderweise ist, nach dem Dauerbrenner Freiheit, das andere F-Wort Faschismus selbst zum Austragungsort eines Kampfs um die Deutungshoheit geworden. In der am donaufestival zu sehenden Doku Schwester Courage vom Kollektiv ZUGANG trifft eine Berliner Demo gegen die Coronamaßnahmen auf eine Gegendemo. Die Gegendemo skandiert: Ihr marschiert mit Nazis! Empörte Demonstrant:innen erwidern: Selber Nazis!  Die AFD-Chefin Alice Weidel erklärt in perfider Absicht Hitler zum Linken. Der US-Historiker Timothy Snyder erkennt in Putin zu Recht einen Schizofaschisten, weil dieser den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine als Kampf gegen den Faschismus maskiert. Elon Musk fordert freie Bahn für seine Transhumanist:innenrasse am Mars und Free Speech für die Alice Weidels dieser Welt. 

Das wäre alles nur mehr kurios, wenn es nicht so monströs wäre. Ein Teil des Publikums findet diese Revolte gegen die Verständigung im von Trump verkündeten „Goldenen Zeitalter“ offenkundig immer noch faszinierend. Der andere Teil erschien lange gelähmt, der Widerstand formiert sich erst.  Auch die Ratlosigkeit der Opposition gehört mit in das Wimmelbild einer Welt aus den Fugen. 

Das Zeitalter des Konfusionismus

Im Zeitalter des Konfusionismus, wie der französische Soziologe Philippe Corcuff unsere Epoche charakterisiert, steht einiges auf dem Spiel, nämlich ein im Einzelnen erratisch wirkender und im Ganzen vielleicht dann eben doch planvoller Umsturz demokratischer Verhältnisse. Der libertäre Autoritarismus drängt an die Macht, er will die Schlacht der Ideen für sich entscheiden. Der eine Flügel der Regierungsmacht im White (Supremacy) House behauptet, etwas vorgeblich Grandioses aus der Vergangenheit wieder great machen zu wollen, der andere fährt die Kettensäge aus der Zukunft aus. Gegen affirmation actions und Trans-Rechte sind aber letztlich beide Fraktionen.

Unterstützt von algorithmisch befeuerter Paranoia und dem generellen Misstrauen gegen die Institutionen bedient der autoritäre Liberalismus auch in Europa rassistische Ressentiments genauso wie die legitimen Wünsche nach einem besseren und freieren Leben und die pauschalisierten Rachefantasien gegen liberale Eliten. So sind im Gefolge der Pandemie irritierende Querfronten zwischen alternativen und rechten Staatsallergiker:innen sichtbare geworden, die im Namen einer „gekränkten Freiheit“ (Carolin Amlinger/Oliver Nachtwey) die konventionellen Vorstellungen von progressiv und konservativ, links und rechts unterlaufen.

Neben der abenteuerlichen Verbindung von libertärem Individualismus, nostalgischen Retrosehnsüchten und der Ablehnung von wokem Individualismus finden sich indes noch mehr Ungereimtheiten im politischen Spektrum der Gegenwart. Wir sind alle „dauererregt und ausgebrannt zugleich“, sagt das Theaterkollektiv andcompany&Co.  Und meint damit weniger die Verwirrung als rechte Taktik als den Zustand der Konfusion in einem linksliberalen bzw. woken Spektrums selbst, in dem über Solidaritätsunterschriften und Cancel-Aufrufe gestritten wird - und wenig gegen die Fabrikation der politischen Paranoia von rechts getan bzw. ausgerichtet wird. 

Eine nationalistische Linke hat – nicht nur in Frankreich - mit einer antielitär argumentierenden Rechten mehr gemein, als ihr lieb ist. Der Antisemitismus findet Zulauf bei alten Nazis und linken Anhänger:innen der Dekolonisierung. Die Ablehnung des postkolonialen Denkens eint einen Teil der Liberalen mit antimuslimischen Rassist:innen. Die linke Achtsamkeit für identitätspolitisch motivierte Traumata verbindet sich manchmal mit einem autoritären Auftreten gegen simplifizierte Feindbilder. 

Der Hass auf den Staat und seine Institutionen

Und dann wäre noch das vielleicht befremdlichste Merkmal der Kombination von störrischem Individualismus und Repressionen für verhasste Andere. Der libertäre Autoritarismus will nicht wie der historische Faschismus den starken Staat, sondern einen imperialen Führerkult, der die Fiktion des Volkswillens mit dem Machtwillen der starken Männer mit den Fingern am roten Knopf kurzschließt. In dessen Reich paradieren keine gehorsamen Untertan:innen in Uniform. Stattdessen posten tätowierte Hoodie-Rebell:innen, T-Shirt-Investmentpunks und schamanistische Gurus Selfies. In einem politischen Umfeld, in dem die Faktenleugnung affektiv aufgeladen wird, entsteht so ein Gemeinschaftsgefühl individualisierter Außenseiter:innen, die den antiautoritären Stinkefinger für sich beanspruchen. Regressive Rebell:innen, Verschwörungsgläubige und andere Querdenker:innen bevölkern eine „wiederverzauberte Welt“ (Amlinger/Nachtwey).

Die Widersprüche in ihr sind zu greifen, aber nicht so leicht aufzulösen. Mit ein paar magischen Tricks sollen alle verwirrten Schafe ins neue Goldene Zeitalter gebeamt werden, das zwischen Mars, Washington und Auf 1-TV herrschen wird.  Was bedeutet in dieser fiktiven Zukunft noch so etwas wie die Wahrheit?

Desinformationen über Desinformationen

Da die Wahrheit nichts ist, was es einfach gibt, sondern immer wieder auf's Neue gesagt werden muss und also auch bestritten werden kann, ist ihre Beanspruchung immer auch in Machtverhältnisse verstrickt. Längst hat sich ein eigenes Vokabular zur Benennung der Info-Flut im Gefolge des Bruchs mit der Konsenspolitik etabliert. Bot-generierte fake news oder handgemachte alternative facts erzählen davon, dass die Wahrheit eine Tochter der (Medien-)Macht ist. Die Herstellung und Verbreitung von postfaktischen Inhalten ist eine mit Siegerlächeln unterfütterte Show, die Gemeinschaftsgefühle stiften und stärken kann. Bei der Inauguration Obamas waren nachweislich mehr Menschen in Washington versammelt als bei Trumps Amtseinführung 2017. Trotz der eindeutigen Bilder verteidigten aber viele Trump-Fans den offensichtlichen Bullshit. Offenbar zählt Zugehörigkeit mehr als Fakten, die nicht unbedingt geleugnet, aber sicher anders interpretiert werden. Die Klimakrisenleugnung bezieht sich auf die schlechte Laune machenden Befunde der gouvernantenstaatstreuen Klimakrisenforschung, die Impfskepsis braucht den verdächtigen Konsens der Expert:innen, gegen den man die einsame Stimme der Kritik erhebt.

Ein besonders verwirrender Begriff in dem Zusammenhang ist die Desinformation. Die Verbreitung und die Akzeptanz von Desinformationen werden oft als Ursache und nicht als Ausdruck der Polarisierung der Gesellschaft gesehen. Wer glaubt, dass Entwurmungsmittel gegen Covid helfen oder die Erde flach ist, gilt als für ein vernünftiges Gespräch verloren. Trotzdem verhalten sich aber die meisten Menschen, die solchen Unsinn verbreiten, nicht so, als würden sie wirklich an diesen glauben. Praktisch unterscheiden sie zwischen symbolischen Glaubensformen, die Gruppenidentitäten stärken, und solchen, die wirklich für den Alltag gelten. Sie nehmen selbst keine Entwurmungsmittel zu sich und fliegen gern rund um eine Weltkugel, um dort eventuell einen Flat Earth-Kongress zu besuchen.

Der Schamanismus-Spezialist Manvir Singh plädiert daher dafür, die Zirkulation der Desinformation und den „Glauben der Anderen“ (Robert Pfaller) eher als Symptom denn als Krankheit zu verstehen. Die verstärkte Nachfrage nach abweichenden Informationen sei nicht die Ursache gesellschaftlicher Deformationen, sondern offenbare ein schon zuvor weit verbreitetes Gefühl der Entfremdung von der „Mainstream“-Kommunikation und einen Vertrauensverlust in die gesellschaftlichen Institutionen – von den Medien bis zur Medizin, von der Parteienpolitik bis zur Diplomatie. Die auf Affektpolitik anfällige und von vielen Einzelnen bewirtschaftete Öffentlichkeit müsse eher als Komplizin denn als Opfer von Desinformationen verstanden werden, sekundiert der Rechtswissenschaftler Dan M. Kahan. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Beschäftigung Adornos mit der Astrologie im kalifornischen Exil im Jahr 1957. Wer der Astrologie glaubt, bearbeitet nach Adorno den tatsächlich bestehenden Widerspruch, sich frei fühlen zu sollen und trotzdem nicht frei zu sein. Schließlich hängt man im Land of the Free durchaus von undurchschaubaren Mächten ab, nennen wir sie nicht Märkte, Oligarchen oder Algorithmen, sondern mit Adorno einmal Sterne. Nun unterwerfen sich aber wohl die wenigsten Horoskopleser:innen vorbehaltlos ihrem Sternbild. Es geht bei der teils eben auch ironischen Lektüre der Möglichkeiten zwischen Schicksal und Zufall auch um das individuell Vernünftige im kollektiv Irrationalen, nämlich um Gesprächsstoff und sozialen Austausch: Was, du bist auch ein Skorpion? 

Welche Wahrheiten?

Zudem steht die gern mit der Wahrheit verknüpfte Kategorie der Vernunft schon lange in der Kritik. Der neomarxistischen Kritik an der barbarischen Zweckrationalität in Auschwitz folgte der postmoderne Angriff gegen „Wahrheitsregime“, der selbst eine Zeitlang in der damaligen BRD als neuer Irrationalismus aus Frankreich diskreditiert wurde. Schon in den 1970er-Jahren wetterte man mit Foucault und Deleuze im Gepäck gegen „das System“, zündete Räucherstäbchen an, wandte sich aber auch gegen die kalten Götter in Weiß im Spital und brach mit lustigen Pillen durch auf die andere Seite. Später kamen die Aufwertung der dissidenten Praktiken von Hexen und Schaman:innen hinzu. Gegen die extraktivistische Rationalität des Westens sind im Kunstdiskurs und an den Universitäten schon länger ein indigenes Wissen und ein planetarisches Denken in Stellung gebracht worden – auch wenn staatlichen Förderstellen dafür nun finanziell ausgehungert werden sollen. Eine Nähe zum magischen Denken zeigt sich aber auch bei den Verächter:innen dekolonialer und indigener Diskurse. Trump-Fans und Finanzmarktgläubige zeigen etwa ein fetischistisches Vertrauen in die unvorhersehbaren Kurssprünge von Kryptowährungen.

Wenn man also heute von Konfusion spricht, so kann damit sowohl die Verwirrung als politische Taktik der Zerstörung wie auch jener wahnhafte, paranoide gesellschaftliche Zustand gemeint sein, der durch diese vertieft wird – und zugleich auch das Produkt einer „vernünftigen“ Selbstreflexion der Gesellschaft ist, in der nicht nur wichtig ist, was gesagt wird, sondern auch wer in welcher Position was sagt.  Verwirrenderweise lässt sich die Macht der Verwirrung nicht ohne die Einsicht in die Pluralisierung der Wirklichkeitserfahrungen und die Relativierung von Wahrheitsansprüchen verstehen.  Post Truth und alternative facts sind so gesehen auch ein Produkt einer vulgarisierten Vernunftkritik, die im Zeitalter des Clicktivism besonders gut gedeiht. Es ist schon oft bemerkt worden, dass Klimaleugner:innen den Klimawandel von einem Sachverhalt zu einer Erzählung umdeuten oder dass rabiate Wissenschaftsfeinde „gekaufte“ Wissenschaftsgläubigkeit anprangern. Die erhellende Kritik an Vernunft- und Wahrheitsansprüchen wird so sukzessive diskreditiert. Stattdessen erzählt der populistisch gekaperte Konfusionismus vom Wunsch nach einer Dauerdisruption, die vom Umgang mit Komplexität ablenkt.

Die Erregungen der Hyperpolitik

 Der Bruch, die Empörung, die Wut, das Ereignis: Das sind Begriffe, die sich nicht a priori links oder rechts einsortieren lassen, aber als Merkmale jener durch Social Media-angeheizten Hyperpolitik (Anton Jäger) verstehen lassen, die durch kurzfristige politische Mobilisierung und mangelnde institutionelle Verankerung geprägt ist. Jäger nennt als Bespiel nicht nur den Sturm des Mobs auf das Kapitol, der sich danach wieder rasch zerstreute und nicht organisierte, sondern auch das Versanden der globalen Solidarität mit der Black Lives Matter-Bewegung.

Was lässt sich gegen den Willen zur Konfusion in einer von hyperpolitischen Erregungen durchsetzten Gegenwart ausrichten? Es ist, nicht zuletzt wegen der im Guten wie im Schlechten schon länger laufenden Kritik an den Defiziten einer sich rational gebenden Gesellschaft sinnlos, eine Rückkehr zu einem Regime unumstößlicher Gewissheiten in Aussicht zu stellen. Bislang hat sich, außer in Sonntagsreden, noch kein Weg zurück in eine heile Welt vor der Konfusion aufgetan, der Konflikte und Widersprüche so benennen könnte, dass diese im Sinne einer herrschaftsfreien Kommunikation wahrhaft demokratisch diskutiert und bearbeitet werden könnten. Wir werden also wohl oder übel weiter mit Unschärfen, Paranoia, irren Konflikten und ideologisch verzerrten Widersprüchen leben müssen – und vielleicht selbst zu Formen produktiver Verstörung finden.

Das Surreale im Politischen

Der Surrealismus träumte nicht nur von der Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch. Die einfachste surrealistische Tat besteht nach André Breton darin, mit dem Revolver wahllos in die Menge zu schießen. Donald Trump stellte schon 2016 stolz die Möglichkeit in den Raum, auf der 5th Avenue jemanden ungestraft erschießen zu können, ohne deshalb Wähler:innen zu verlieren.

Die surrealistische Provokation erhält so ein unheimliches Echo durch die Macht des Möchtegernkönigs. Die Autorin Naomi Klein erkennt in der Figur des unheimlichen Doppelgängers nicht nur das verdrängte, unangenehme Andere des Ich, sondern auch das Zerrbild heutiger Demokratien. Wer es ansieht, kann vielleicht das Schiefe im Selbstbild und damit die Optionen von Widerständen gegen das Regime der Konfusion besser erkennen. In dem Sinn zeigt zum Beispiel eine Künstlerin wie Regina José Galindo mit ihrer Inszenierung eines Marschkapelle in Krems beim heurigen donaufestival keine simple Verdopplung, sondern einen simplen Weg, der das Verstörende der heutigen Militarisierung in den Blick bekommt. Der Weg der uniformierten Musikparade führt zurück in ein neues dunkles Zeitalter. Denn die Formation bewegt sich nicht nach vorn, sondern geht rückwärts - als wäre sie Teil einer Retrogarde.

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